TONARTEN

Hier handelt es sich um den ersten Teil eines Komplexes, in dem es um modale Systeme innerhalb des Zwölftonsystems geht. In diesem Beitrag stehen die Kirchentonarten bzw. das Ionische System aus diatonischen Skalen im Mittelpunkt. Dazu hier eine Abbildung.
In einem SPECIAL unter der Überschrift VIERTELTÖNE wird auf diesen Begriff eingegangen. Am Beispiel der Kommas im Tonmaterial der Makame der türkischen Musik wird gezeigt, wie differenziert dieser Begriff im Zusammenhang mit ethnischen Musikkulturen zu sehen ist, deren Intonation deutlich wahrnehmbare Differenzen zur wohltemperierten Stimmung aufweist.

Um uns über die Tonalität eines Musikstücks verbindlich zu verständigen, bedienen wir uns der Tonarten wie F-Dur oder E-Moll. Solche Tonart-Bezeichnungen haben sich in der europäischen Musikgeschichte herausgebildet. Die Unterscheidung von Dur und Moll als sogenannte Tongeschlechter ist dabei vor allem ein Ergebnis einer zunehmend harmonischen Sichtweise in der Musik des 18./19. Jahrhunderts, in der Akkorde und deren Klangfärbung gegenüber der Melodik vorübergehend mehr an Bedeutung gewonnen haben. Entscheidend daran ist die klare Festlegung auf einen Grundton und eine genau definierte Tonleiter. Mehr oder weniger damit vergleichbare Muster für die Tonalität, die ebenfalls die konkrete Musizierpraxis reflektieren, gibt es in allen Musikkulturen. Beispiele dafür sind die GOGO-Skala (siehe Beitrag "Partialtöne") oder die türkischen Makame (siehe Kasten VIERTELTÖNE).
In der Populärmusik des 20. Jahrhunderst, insbesondere der mit vielen afroamerikanischen Elementen, hat der traditionell-europäische Tonartbegriff zunehmend den Bezug zur Praxis verloren. Der Grund: eine Tonalität, die mehr oder weniger stark vom einfachen Dur/Moll-Muster und den dazugehörigen Tonleitern abweicht. In vielen Fällen reduziert sich der einzige Sinn einer Tonart-Bezeichnung nur noch auf die Nennung eines Grundtons. An die Stelle von Bezeichnungen wie „Dur“ oder „Moll“ treten zwangsläufig sinnvollere Beschreibungen der Tonalität wie z. B. „ein Blues in A“. Wollte man hier entweder die A-Dur- oder die A-Moll-Tonalität konsequent anwenden, wäre das ein klangliches Desaster.
Dieser Problematik hat man sich im Jazz in der Weise angenommen, dass man Tonalität beispielsweise mit den Bezeichnungen der modalen Tonleitern (Kirchentonarten) genauer beschreibt. Das gilt aber vor allem für Lehrwerke zur Improvisation. In der täglichen Praxis verlässt man sich vor allem auf die Akkordsymbole und die ungeschriebenen Gesetze, wie diese über ihren lesbaren Inhalt hinaus verstanden werden. So geht man z. B. beim Symbol Am7 automatisch davon aus, dass hier eine großen Sexte statt der kleinen Sexte der reinen A-Moll-Tonleiter Verwendung findet (Fis statt F). Eigentlich wird das aber im Akkordsymbol nicht zum Ausdruck gebracht, denn die „7“ (kleine Septime) ist ohnehin ein Bestandteil der (reinen) Molltonleiter. Genauer müsste man hier von „A dorisch“ sprechen – in der Abbildung zu den Kirchentonarten können Sie nachvollziehen, dass dies dann die Moll-Tonleiter mit einer großen Sexte über dem Grundton ist (in der Abbildung wäre das Dm).
Um auf das Beispiel „Blues in A“ zurückzukommen: Hier kann man sich noch nicht einmal mehr auf Dur oder Moll festlegen, denn die Gleichzeitigkeit der großen und kleinen Terz (Blue Note) als elementares Stilmittel des Blues würde damit verhindert. Hier würden gleich zwei der Kirchentonarten in Betracht kommen: „A dorisch“ und „A mixolydisch“. Nicht zuletzt wegen dieses Wirrwarrs kursieren die verschiedensten „Bluestonleitern“, von denen aber keine das wirkliche Tonmaterial des Blues genau auf den Punkt bringt und – genau wie viele praxisentfernte Regeln und Begriffe aus der europäischen Harmonielehre – nicht den Zweck erfüllen, die Orientierung beim Improvisieren oder Instant Composing zu erleichtern.

Modale Systeme

Ausgehend von Systemen aus der Musikgeschichte möchte ich in kommenden Workshopfolgen Möglichkeiten anbieten, mit denen man das Dur/Moll-Tonmaterial und viele der damit verbundenen Begriffe in ein Denkmuster einbinden kann, mit dem man nicht in die oben beschriebenen Erklärungsnotstände gerät. Unter dem Oberbegriff MODALE SYSTEME beruht das Konzept in erster Linie darauf, diatonische und pentatonische Skalen einander zuzuordnen und ein relativ leicht überschaubares Schema zu errichten. Damit kann die Bezeichnung „Tonart“ insofern erweitert oder abgewandelt werden, dass der oder ein Grundton an Bedeutung verliert, zugunsten der Intervallstruktur und einer damit verbundenen Auswahl an diatonischen und mehreren „daraus ausgekoppelten“ pentatonischen Skalen. Die pentatonischen Skalen spielen dabei deswegen eine große Rolle, weil sie noch weniger abstrakt die Verbindung zu melodischen Elementen darstellen (Licks, Riffs). Schließlich dominieren in den meisten uns heute beschäftigenden Musikrichtungen pentatonische Tonfolgen – kein Wunder, denn schon die ethnischen Musikkulturen aller Kontinente leben hauptsächlich von dieser Tonalität.
Genug der Vorrede, all diese Dinge werden noch im Detail erläutert werden. Als Einstieg dazu, und in vielen Zusammenhängen auch als unverzichtbare Referenz, stelle ich im folgenden Abschnitt zunächst das „klassischste“ aller modalen Systeme vor.

Kirchentonarten – das Ionische System

Die europäische Musik basiert mindestens seit der Antike auf diatonischen Tonleitern, bestehend aus 7 Tönen innerhalb einer Oktave. Dabei werden 5 Ganztonschritte (GT) und zwei Halbtonschritte (HT) verwendet, die dann (im Modus der Ionischen Skala, der Durtonleiter) in der Reihenfolge GT, GT, HT, GT, GT, GT, HT angeordnet sind.
Bei gleichbleibender Struktur dieser diatonischen Tonfolge gab es in der Musikgeschichte Unterschiede in der Verwendung dieses Tonmaterials, bei denen jeweils verschiedene Töne als Grundton galten. Heute allenthalben unter der Bezeichnung KIRCHENTONARTEN bekannt, sind die Namen der Skalen (Modi) von denen ethnischer Gruppierungen im alten Griechenland abgeleitet. In der Kirchenmusik des Mittelalters spielten diese Bezeichnungen eine ähnliche Rolle wie später die Tongeschlechter Dur und Moll. Der LOKRISCHE Modus, in dem die 7. Stufe der Ionischen Skala zum Grundton erklärt wird, existierte in diesem Zusammenhang allerdings noch nicht und wurde erst später der Vollständigkeit halber hinzugefügt.
Wegen der oben beschriebenen Grund-Intervallstruktur, die der Durtonleiter bzw. der Ionischen Skala entspricht, werden die Kirchentonarten auch als IONISCHES SYSTEM bezeichnet. In der Abbildung sehen Sie den Aufbau dieses Systems, wieder einmal unter Verwendung nur der weißen Tasten (C-Dur als Ionische Skala). Übrigens unterstreicht die Gestaltung der Tastatur bei dieser Gelegenheit auch die enge Beziehung zwischen diatonischem System und dem Bau von Instrumenten.


Kirchentonarten – das Ionische System

Wollte man dieses System verinnerlichen, müsste eine Übung nun mindestens darin bestehen, auf immer dem gleichen Grundton C jede dieser Skalen aufzubauen, statt mit immer den gleichen Tönen und wechselnden Grundtönen. In diesem Falle würden sich unterschiedliche Tonmaterialien ergeben, die dann beispielsweise als C lydisch, oder C lokrisch bezeichnet werden müssten. In der Abbildung können Sie die Intervallstruktur oberhalb der Skalentöne an den Kürzeln HT (Halbtonschritt) und GT (Ganztonschritt) erkennen. Diese Intervallfolge wäre hierfür die zweckmäßige Orientierung.
Allerdings kann dann nicht mehr von verschiedenen Modi eines bestimmten Tonmaterials die Rede sein, sondern die Bezeichnungen der Modi würden dann dazu dienen, eine Skala auf dem Grundton C genau zu spezifizieren. C aeolisch würde dann eben gleichbedeutend sein mit C-Moll.

Vierteltöne

Im Zusammenhang mit dem Begriff TONARTEN ist es vielleicht ganz interessant, mal über den Tellerrand der mitteleuropäischen Musikkultur hinauszusehen und dabei gleich noch einen Begriff zu durchleuchten, der den Rahmen des allgegenwärtigen Zwölftonsystems sprengt. Genau das ist in der europäischen E-Musik des 20. Jahrhunderts ganz bewusst geschehen, indem zusätzliche Vierteltöne eingeführt wurden. Entsprechend ihrer Ausgangsbasis sind diese Vierteltöne nun genau das, was ihr Name verspricht: Sie weichen um +/- 50 Cent vom Halbton ab, liegen also auf halbem Wege dazwischen, wodurch eine Oktave 24 verschiedene Töne mit gleichem Abstand umfasst.
Nun ist aber auch von Vierteltönen die Rede, wenn die für unsere Ohren ungewohnte Intonation in nahöstlicher Musik begründet werden soll. Dort aber ist dieser Begriff mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen! Von Vierteltönen im oben genannten Sinne kann nämlich eigentlich nicht die Rede sein. Am folgenden Beispiel soll das belegt werden:
In der klassischen türkischen Musik gibt es den Begriff „Makam“. Mit dem Namen eines Makams wird die Tonalität eines Musikstücks umfassender und mehr aus der konkreten, musikalischen Bedeutung heraus beschrieben, als mit dem Tonart-Begriff in der europäischen Musik. Makame sind tonale und formale Muster, die nicht nur ein Tonmaterial, sondern auch den Verlauf seiner Verwendung beschreiben. (In nahezu allen Musikkulturen findet man derartige Grundbausteine, die aber, wie z. B. auch die Kadenzen der europäischen Musik, immer nur sehr bedingt miteinander vergleichbar sind.) Genaueres zu den Makamen können Sie im Buchtipp [1] nachlesen. An dieser Stelle möchte ich nur auf die Intervallstruktur eingehen:
Anstelle von Halb- oder Vierteltönen wird hier mit „Kommas“ operiert, wobei ein Ganztonschritt etwa in neun Komma-Schritte unterteilt wird. Ein Komma-Schritt entspricht also ca. 22 Cent, was natürlich auch nur als grobe Schematisierung zu betrachten ist.
Nun bedeutet diese Unterteilung aber nicht, dass innerhalb eines Ganztonschritts neun gleichberechtigte Töne im Abstand von ca. 22 Cent existieren. Die Kommas sind vielmehr das ungefähre „Raster“, auf dem einzelne Töne liegen, genauer: bevorzugt das 1., 4., 5. und 8. Komma. Ein Ton kann mit Hilfe entsprechender Vorzeichen (siehe Abbildung, die dem o. g. Buch [1] entnommen ist) also um 1, 4, 5 oder 8 Kommas nach unten oder oben alteriert werden.

Makame
Die Kommas der Makame

Auch wenn die Annahme richtig sein sollte, dass die Partialtonreihe die gemeinsame Basis tonalen Empfindens ist, wird der Nachweis im konkreten Falle einer bestimmten Musikkultur immer wieder schwer fallen. Gleichermaßen sollte man sich aber bewusst machen, dass die Frequenzverhältnisse der Partialtonreihe immer noch besser für eine Analyse geeignet wären, als die „Konstruktion“ der wohltemperierten Stimmung. So gesehen ist übrigens auch die europäischen Notenschrift nur bedingt geeignet, um die musikalischen Inhalte anderer Kulturen darzustellen.

GLOSSAR

Cent – Maßeinheit für die Feinverstimmung von Tönen. Ein Halbtonschritt im Zwölftonsystem entspricht 100 Cent.

chromatisch – bezieht sich auf die gleiche Klangfärbung von Halbtonschritten im wohltemperierten Tonsystem.

diatonisch – charakterisiert ein Tonsystem, in dem Tonleitern aus zwei verschiedenen Tonschritten aufgebaut sind: aus Halb- und Ganztonschritten. Innerhalb einer Oktave werden diese zu 7 Tonstufen kombiniert. Im Zusammenhang mit der Einführung der wohltemperierten Stimmung dient der Begriff auch zur Unterscheidung des diatonischen (nicht wohltemperierten) vom chromatischen (wohltemperierten) Tonsystem. In dem Falle weist „diatonisch“ auf nicht wohltemperiert gestimmte Intervalle mit den Frequenzverhältnissen der Partialtonreihe hin.

Intervall – Zwischenraum, im musikalischen Sinne der Abstand zwischen zwei Tönen.

Oktave – Intervall, das durch Verdopplung einer Frequenz entsteht.

Partialtonreihe – Teiltonreihe, Skala von Tönen, deren Frequenzen sich aus dem ganzzahligen Vielfachen der Grundtonfrequenz ableiten.

wohltemperiert – Anpassung der Tonfrequenzen im europäischen Tonsystem, die zu 12 gleichen Halbtonschritten innerhalb einer Oktave führt.

BUCHTIPPS

[1] – MUSIK DER TÜRKEI, Türk Müzigi, Vertrieb: „Pläne“ Dortmund

[2] – DIE NEUE HARMONIELEHRE (Band 1, 2 und Praxisheft), Frank Haunschild, AMA-Verlag, ISBN 3-927190-00-4 (Band 1), ISBN 3-927190-08-X (Band 2), ISBN 3-927190-57-8 (Praxisheft).

[3] – DER MUSIKALISCHE SATZ (14. bis 20. Jahrhundert, Rhythmik, Harmonik, Kontrapunktik, Klangkomposition ...),
Herausgegeben von Walter Salmen und Norbert J. Schneider, Edition Helbling, Innsbruck, ISBN 3-900590-03-6.

 

© 2001 by Wolfgang Fiedler